Sonntag, 15. Juni 2014

GESCHICHTE VON UNTEN

Der herkömmlichen Geschichtsschreibung wird oft vorgeworfen, eine Geschichte der Herrschenden zu schreiben und damit die Unterprivilegierten zu vernachlässigen und bestehende oder gewesene Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren.

Besonders in Phasen, in denen oppositionelles Denken Mode ist, wie in Folge der 68er-Bewegung, kommen geschichtsphilosophische und geschichtswissenschaftliche Strömungen auf, die Geschichte anders betrachten und eine "Geschichte von unten" schreiben wollen.

Diese Idee gab es aber nicht nur unter den 68ern, sondern auch z. B. schon im Wilhelminismus unter Ludwig Quidde. Quidde stammte aus dem linksliberalen Spektrum. Frühe Ansätze findet man aber schon bei einigen antiken Historikern und Philosophen, aber auch bei Meslier u. a.

Im Prinzip ist der Ansatz einer Geschichte von oben gar nicht so unsympathisch und vielleicht sogar legitim. Bei Geschichtsbetrachtungen schwingt gerne eine Ritter- oder Caesarenromantik mit und man phantasiert sich selbst als Anhänger der herrschenden Klasse in eine vergangene Zeit, ohne sich bewusst zu machen, dass man auch ein einfacher Bauer oder gar Sklave hätte sein können.
So ein Ansatz ist aber auch gefährlich, weil er viel "Menschheit" weglässt.

Ein historischer Ansatz sollte ganzheitlich (holistisch) sein und daher alle Menschen (i. e. alle Gesellschaftsschichten) des betrachteten Zeitraumes umfassen.

Man darf aber nicht umgekehrt den Fehler machen, die Herrschenden zu vernachlässigen. Denn weil sie die Herrschenden waren, konnten sie auch am meisten bewirken (auch wenn das nicht immer ihr eigenes Verdienst war).
Das macht ihre Erforschung spannend. Ausserdem haben es Herrschende meist auch so an sich, dass sie ihr Leben spannender inszenieren und besser ästhetisieren können als andere.
Eine reine Geschichte der Knechte ist zwar legitim, kann aber auch schnell langweilig werden, wenn man "Spannung" als historische Betrachtungskategorie und Motivationsfaktor zulassen will. 

Wenn man die Herrschaftsverhältnisse weiterdenkt, können Menschen der eigenen Ethnie beherrscht werden oder menschen einer fremden Ethnie, die z. B. nach einem Krieg unterworfen wurde. Dies bringt den Herrschaftsbegriff dann in die Nähe des Begriffs Imperialismus, auch wenn dieser etwas grob ist.

Man muss dabei aber speziell bei Ansätzen aus der Strömung der (Neuen) Linken aufpassen, dass man nicht einem falschen Imperialismus-Begriff aufsitzt.
Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn man Machtverhältnisse untersucht. 

Denn die Linke hat ausgesprochen oder unausgesprochen folgenden Fehler ("Knick") in der historisch betrachtenden Optik:
Für die Linke ist Imperialismus nur dann schlecht, wenn er von einem germanischsprachigen und/oder faschistoiden Land betrieben wird.
Gute Beispiele dafür sind die USA, England oder Deutschland.
Die Linke stört sich nicht oder nicht so sehr am Imperialismus, wenn er von einem romanischsprachigen, slawischsprachigen oder von einem kommunistisch regierten Land oder gar von einem indigenen Stamm betrieben wird.
Ein Imperialismus Frankreichs, eines südamerikanischen Staates, der Irokesen, der Zulus, der Sowjetunion, (Rot-)Chinas, Nordvietnams oder Nordkoreas wird nicht so stark kritisiert.

Beispiele für eine Geschichte der Unterdrückten:
- indigene Bevölkerungen, die vertrieben oder ausgerottet wurden
- antike Sklaven 
- Aborigines
- Buschmänner 
- vorindogermanische Bevölkerung Europas
- Gallier 
- Atheisten
- Katharer
- Templer
- Pruzzen (frühe baltische Bewohner Preussens)
- Bergarbeiter, z. B. in den Tiroler Silberminen 
- Gefängnisgeschichte
- Tibeter und Uighuren
- Basken



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen