Dienstag, 27. August 2013

BEWERTUNG DES INDIVIDUALISMUS

Moderne Gesellschaften werden oft als individualistisch bezeichnet. Das wird mal als fortschrittlich und mal als zersetzend bezeichnet.

Der Individualismus ist richtig verstanden eine sehr wichtige Errungenschaft. Sie musste lange und mühsam erkämpft werden.

Es ist davon auszugehen, dass der Mensch als Individuum Zwängen durch seine multiplen Gruppenzugehörigkeiten unterworfen ist, die seine naturmögliche Entwicklung und Entfaltung hemmen.
Man sollte Individualismus aber nicht so auslegen, dass man jedes Eingebundensein in Gruppen und jede Gruppenverantwortung leugnet. Das wäre ein atomistischer Individualismus, wenn man so will ein Hyperindividualismus.
Die Gesellschaft funktioniert zwar grob betrachtet wie ein Räderwerk, in dem die Zahnräder ineinander greifen müssen, was für Kollektivismus (Systematismus) statt Individualismus sprechen würde. Nur leider führt diese soziale Rollenverteilung mit ihren Rollenerwartungen dazu, dass die Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums deutlich unterdrückt werden.


Bedingungen des Individualismus'

Will man diese Erkenntnisse praktisch umsetzen, dann muss man feststellen, dass man erstens in einem freiheitlich verfassten Land leben und zweitens über ausreichend Geld verfügen muss, um diese Freiheitsrechte auch durchzusetzen. Das heisst noch konkreter, dass ich überall wo ich lebe, also in allen sozialen Gruppen, auf meine individuelle Freiheit so gut es geht achten muss. Ich darf weder in der Familie abhängig sein, noch im Beruf, noch sonstwo. Zumindest nicht über Gebühr, denn geringe Abhängigkeiten sind unvermeidbar. Man nähert sich dem Ziel der Unabhängigkeit sozusagen asymptotisch. Gerade im Beruf ist eine gewisse Hierarchie nicht vermeidbar. Auch bei seinen Freizeitaktivitäten muss man Abhängigkeiten zu verhindern suchen.

Das heisst aber nicht, dass man nun freischwebend "irrlichtern" sollte. Man sollte sich stattdessen weise Mitmenschen als "Coach" nehmen, nicht aber als über einem stehender "Lehrer"! Interessanterweise findet man auch in der Populärkultur diesen Gedanken mit Coach und Lehrer, der gleichrangig ist und nicht höherrangig (vgl. Nora Tschirner).

Es ist immer wieder interessant und gleichzeitig traurig, wie man ganz konkret im Alltagsleben erleben muss, wie sich Menschen gegenseitig blockieren und in ihrer Entfaltung hemmen. Man kann feststellen, dass viele Probleme durch den banalen Vorgang lösbar wären, dass man jedem Menschen einen eigenen abschliessbaren Raum zur Verfügung stellen würde, in den aber Kommunikationsleitungen nach aussen gelegt sind.


Grenzen des Individualismus'

Der Individualismus hat natürlich auch Grenzen. Und die liegen kurz gesagt in der Produktion und in der Reproduktion. Daneben ist es wichtig, dass man die Selbstverwirklichung nicht soweit betreibt, dass man sich und anderen schadet. Man kann das Ganze ungefähr betrachten wie das Spiel mit Pflicht und Kür.

Mit Produktion ist die Herstellung von Gütern gemeint, besonders aber von lebenswichtigen Gütern. Zur Produktion kann man auch die Produktion von Dienstleistungen (kurz: die Dienstleistungen) rechnen.
Man kann und sollte sich selbstverwirklichen, aber nicht einfach auf Kosten der Produktion. Würde man dies tun, würde man die Konsequenzen bald zu spüren bekommen. Hier liegt ja auch ein Hauptkritikpunkt an der Hippiebewegung, die Gutes und Schlechtes gebracht hat.

Die Reproduktion ist aus naheliegenden Gründen genauso wichtig. Der Mensch muss sich biologisch selbst erhalten. Zumindest gilt das so lange, wie er nicht mit Hilfe der Biotechnik andere Mittel und Wege der Selbsterhaltung gefunden hat.
Auch hier ist die Hippiebewegung ein gutes Beispiel. Die Bewegung hat einerseits freie Liebe gepredigt, andererseits aber durch extreme Selbstverwirklichung und Kampf gegen familiäre Zwänge die Reproduktion gefährdet. Ein Bekenntnis zur Paarbeziehung zur Aufzucht der Kinder bedeutet nicht, dass man sich reaktionären Familienzwängen unterwerfen muss. Man muss sich z. B. nicht von seinen Eltern sagen, ob man die Haare kurz oder lang zu tragen hat. Man sollte aber in der Lage sein, Kinder grosszuziehen.

Die Vermeidung von Schaden wurde als weitere Grenze des Individualismus' genannt. Das ist auch wichtig.
Auch hier kann man die Hippiebewegung als Beispiel heranziehen. Rockstars, die damals wilde Musik machten und sich Drogen "reinpfiffen", haben sicher ein interessantes Leben gehabt. Man denke an Jefferson Airplane. Sie haben damit die engen Regeln der Familie abgeschüttelt. Doch viele haben auch ein kurzes Leben gehabt. Anfangs als rebellisch geltende Exzesse wie musikalische Exstase, Drogenkonsum und ein insgesamt unregelmässiger Lebensrhythmus haben ihre Körper und Geister zerstört. Man denke an Jim Morrison und Janis Joplin.

Doch Vorsicht: Menschen, die sagen, "Der Individualismus hat Grenzen!" sind oft Reaktionäre.
Sie wollen einem ihr Konzept vom Leben aufzwingen, z. B. ihre Art und Weise, sein Blumenbeet zu pflegen.
Das kann man getrost vergessen. Die Grenzen des Individualismus lieben in der Produktion und Reproduktion und in der Vermeidung von Schaden.











Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen