Sonntag, 3. November 2013

DER MODERNE KAPITALISMUS II

WIRKMECHANISMEN DES HEUTIGEN SYSTEMS
und/oder: DIE DUNKLE SEITE DES WESTENS


Einleitung

Viele Menschen denken, der "Westen", in dem der moderne Kapitalismus entstanden ist, sei zusammengesetzt aus liberal-demokratischen Staaten. Dieser Begriff impliziert die Begriffe Freiheit und Volkssouveränität, also prinzipiell Selbstbestimmung und hat eine positive Konnotation. Dem ist aber nicht immer so. Das heisst aber nicht, dass Diktaturen wie z. B. kommunistische oder nationalsozialistische besser wären. (Die Tatsache, dass sich inzwischen auch in Diktaturen kapitalistische Elemente herausbildeten, lassen wir zunächst einmal beiseite.)
Wir müssen also die Wirkmechanismen dieses Systems untersuchen. Die Unterüberschrift wurde dazu gewählt, die Doppelbödigkeit des Systems zu beschreiben und sie ist auch an einen Spiegel-Artikel angelehnt, der diese Doppelbödigkeit, die besonders nach dem Sieg im Kalten Krieg herauskam, besonders gut beschreibt. Das ist nicht nur uns aufgefallen, sondern interessanterweise auch dem Polithistoriker Daniele Ganser (Parallelgedanke).


Freiheit und Scheinfreiheit

Es ist nur so, dass dieses Bild, diese Aussenwirkung, ein paar Risse hat. Man muss damit zumindest das politische und wirtschaftliche Subsystem getrennt untersuchen und fragen, ob, wie und wo sie zusammenwirken.
Zunächst einmal kann man in kapitalistischen Staaten liberaler Prägung wählen gehen. Das ist historisch betrachtet ein deutlicher Freiheitsfortschritt. In einer Ständegesellschaft ging das so noch nicht. Der Mensch ist - frei nach der Französischen Revolution - zum (Staats-)Bürger, also "citoyen" geworden. Aber schon nach dieser Revolution bemerkten Zeitgenossen wie Karl Marx, dass es bei den neu errungenen Freiheitsrechten eine Hierarchie gab und dass z. B. das Recht auf Eigentum einen besonderen Vorrang genoss. Die Französische Revolution trug also den Keim einer Bürgerlichen Revolution in sich, und zwar ist damit jetzt nicht der Staatsbürger (citoyen) gemeint, sondern der Besitzbürger (bourgeois).


Warum?

Dementsprechend kann man in modernen Liberaldemokratien zwar wählen und frei seine Meinung äussern - was historisch ein nicht zu unterschätzender Fortschritt ist, man kann aber nicht so einfach etwas damit ändern. Woran das liegt, muss man extra untersuchen. Um nicht unter einem Wust von Fakten die Kernaussage zu begraben, bringen wir sie gleich jetzt:
Wenn man in liberalen Demokratien wählen kann, muss man sich fragen, WAS man denn wählen kann!
Auf politischer Ebene (System) kann man z. B. Einzelkandidaten oder Listen von Kandidaten wählen, die man meistens nicht selber aufgestellt hat. Auf wirtschaftlicher Ebene oder in anderen Bereichen wie der Justiz kann man z. B. fast gar nichts wählen. Es gibt da gewisse Einschränkungen, z. B. im deutschen Betriebsverfassungsgesetz oder bei Richterwahlen in den USA. Prinzipiell darf man aber zwar seinen Präsidenten oder Regierungschef wählen, nicht aber seinen direkten Chef auf der Arbeit. Und damit unterliegt das Recht der Wahlfreiheit deutlichen Einschränkungen.
Hinzu kommt noch, dass auf wirtschaftlicher Ebene der "mündige Bürger" in diesem System dazu neigt, sich selbst zu strangulieren. Er hat nämlich unterschiedliche Interessen als Arbeitnehmer und Kunde. Als Kunde will er seine Ware billig, gut und schnell haben, als Arbeitnehmer beutet er sich damit aber aus.
Es kann sogar noch ein Faktor auf politischer Ebene dazu kommen (womit wir oben wieder anknüpfen). Der Mensch in einer modernen Liberaldemokratie kann zwar frei seine Meinung sagen, es stellt sich aber die Frage, ob er das tun sollte. Denn schon J. Edgar Hoover vom FBI lobte die Demokratie aus Geheimdienstsicht dafür, dass die Menschen dazu neigten, ihre Meinung offen zu sagen und nicht konspirativ und er daher als Geheimdienstmann klar sehen könne, wo er bei seinen Ermittlungen (Spionage) ansetzen müsse. In heutigen Zeiten des Internets ist diese Entwicklung noch viel extremer. Der Mensch kann sagen, was er will und tut dies auch reichlich, aber er wird überall abgehört und aufgezeichnet, modern ausgedrückt "mitgeloggt". Das heisst er läuft in die Falle ("It's a trap.")!


Ethnie und Religion im Kapitalismus

Eine kontroverse Diskussion ist auch, was mit den traditionellen Gruppenidentitäten in der Gesellschaft wird. Gehen sie im Kapitalismus unter?
Einige sagen ja. Darunter Ted Kaczynski (siehe: Manifest desUNA-Bombers), der die These vertritt, dass die angeblich systemkritischen linken Bewegungen der 60er-Jahre in Wirklichkeit systemstabilisierend ("immanent") waren und den Kapitalismus bzw. die moderne Industriegesellschaft stabilisierten, indem sie interne Friktionierung auflösten oder schwächten.
Auf der anderen Seite gibt es Theoretiker, die behaupten, dass die alten vorkapitalistischen Gruppenbildungen und Verwerfungen in der kapitalistischen Gesellschaft weiterbestehen werden. Dazu gehören Immanuel Wallerstein und Etienne Balibar (siehe: Rasse, Klasse, Nation). Möglicherweise bleiben aber nicht alle dieser vorkapitalistischen Gesellschaftselemente erhalten oder sie werden transformiert.

Wir schliessen uns eher der zweiten These an, aber nicht ausschliesslich. Die traditionellen Verwerfungen der Gesellschaft werden im Kapitalismus nicht alle abgeschafft, aber "passend gemacht". Das heisst, entweder sie passen bereits oder sie werden transformiert oder sie werden abgeschafft oder sie können nur noch in Nischen existieren.

Ein gutes Beispiel ist Religion. Kann sie im Kapitalismus weiterexistieren?
Es kommt darauf an, wie man sie definiert.

Nehmen wir z. B. das Christentum. Das traditionelle Christentum geht davon aus, dass Gott Jesus als seinen Sohn auf die Erde schickt, dieser hingerichtet wird und wieder aufersteht, die Menschen für ihre Sünden erlöst und dass letzten Endes das jüngste Gericht die jetzigen irdischen Verhältnisse aufräumen wird. Und das möglichst bald, also kurz nach dem Tode Jesu (Christi)!
So etwas funktioniert natürlich nicht im modernen Kapitalismus. Denn dieses System ist darauf angewiesen, dass man in die Zukunft plant und sich wirtschaftlich weiterentwickelt, nicht, dass man starr auf das baldige Weltende wartet. Auch will der materialistische Kapitalismus nicht, dass man sich zurückzieht und vergeistigt über den Zustand des Seins nachdenkt (meditiert). Er braucht ja wirtschaftlich produktive Menschen.
Etwas anderes funktioniert aber schon: Wenn man das Christentum so modifiziert, dass es nur ideologischen Kitt stellt und eine Netzwerkfunktion besitzt, sei es nur, um den Menschen Halt zu geben, sei es, um diese Netzwerke gleich zum Geschäftemachen zu benutzen, dann ist das aus Sicht des Systems gut.
Man spricht auch von "säkularisiertem Christentum". Ähnlich kann man auch die anderen Religionen entsprechend säkularisieren - gerade dem Judentum wird diese säkularisiert-materielle Netzwerkfunktion häufig vorgeworden, es funktioniert aber auch bei anderen Religionen. Immerhin ist dies eine Option.
Antikapitalistische Passagen der jeweiligen Lehre werden dann einfach übersehen!

Ähnlich verhält es sich mit der ethnischen Identität, sei sie nun gefühlt (subjektiv) oder wirklich vorhanden (objektiv).
Man kann etwas schärfer auch von Ethnizismus, Nationalismus oder gar Rassismus sprechen.
Auch hier muss man ein "sowohl als auch" setzen, was auf den ersten Blick etwas halbherzig wirken mag, in Wirklichkeit aber sinnvoll ist. Der klassische Ethnizismus kann dem Kapitalismus Sand ins Getriebe streuen, weil ethnische Spannungen Reibungsverluste bedeuten können, er kann aber auch antreibend wirken. Zum einen kann er ethnische Spannungen als Konkurrenzfaktoren antreiben und ausnutzen und damit die Ausbeutungsintensität erhöhen. Zum anderen kann man durch Diskriminierung bestimmter Ethnien aber auch sicherstellen, dass man eine Gruppe von Menschen hat, die einfache und unbeliebte Arbeiten macht.
Man kann z. B. Osteuropäer in Westeuropa einsetzen, um einfache Haushaltsdienstleistungen verrichten zu lassen. Das ist zwar moralisch verwerflich (vulgo: "Scheisse), aber im Sinne des Systems durchaus praktisch.
Ebenso hat man es früher in Frankreich mit der Bretagne gemacht. Die Frauen aus einfachen bretonischen Familien arbeiteten bei der feinen Pariser Gesellschaft als Haushaltshilfen oder gleich im Puff.
In Japan könnte man die Burakumin grob in diese Kategorie einteilen, allerdings handelt es sich dabei eigentlich um keine Ethnie, sondern um eine ausgegrenzte japanische Subgruppe, die aber von manchen Wissenschaftlern als "Quasi-Ethnie" betrachtet wird. Diese Gruppe wurde schon in der Edo-Zeit unter dem Shogunat Tokugawas ausgegrenzt und für Arbeiten eingesetzt, die mit Blut, Tod und Lederverarbeitung zu tun hatten.



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